Stephan Berg
MEMORIES ARE MADE OF THIS
Über den Arbeiten Jörg Wagners liegt die Atmosphäre einer tiefgreifenden, paradox wirkenden Abwesenheit. Deutlich wird dies bereits in den seit 1996 entstandenen Papierräumen, mit denen der Künstler einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Bei diesen Arbeiten entfernt Wagner zunächst das komplette Mobiliar aus dem jeweiligen Zimmer, bedeckt den kompletten Raum mit lichtempfindlichen Pauspapier und belichtet sodann den Raum, nachdem die Möbel wieder an ihre urspüngliche Position zurückgebracht wurden. Das so entstandene geisterhafte Nachbild eines realen Raumes, das – aufgrund des Belichtungsaktes – das Mobiliar als blauschwarze Schattenrisse zeigt, wird zu einem Papierraum in der Größe des Originalraums montiert und im Ausstellungsraum installiert.
In struktureller Verwandtschaft zu Rachel Whitereads „Ghost“ (1990), einem hermetischen, unbetretbaren Kubus, der auf seinen Außenseiten die Gipsabdrücke der Wände eines viktorianischen Zimmers zeigte, oszillieren auch Jörg Wagners Papierräume exakt zwischen körperhaft erlebbarer Realität und phantomhafter Projektion. Vor ihnen stehend erleben wir, wie sich der reale Raum in einen bildhaften, entkörperten Raum verwandelt, dessen skulpturale Gestaltung ihm Körperlichkeit gerade soweit zurückgibt, dass wir in ihm beides sehen können: Faktisch anwesenden Raum, in dessen Gegenwart der Betrachter eintreten kann, und dreidimensionale Rekonstruktion eines dem Betrachter völlig entzogen bleibenden ursprünglichen Zusammenhangs. Das macht diese Arbeit zu einer Recherche nach der Struktur und der Qualität von Erinnerungsräumen. Dies umso mehr, als Wagner für all seine Belichtungen Situationen wählt, die mit seiner persönlichen Biografie in Zusammenhang stehen.
Zunächst waren dies, wie beispielsweise „Jugendzimmer“ (1996) tatsächlich die Räume, in denen er aufgewachsen war, später beispielsweise bei „Bedroom“ (1998) (Schlafzimmer seines Galeristen Luis Campana) oder “Ken“ (1998) (Wohnung eines befreundeten Japaners) auch Räume aus seinem persönlichen und beruflichen Umfeld. Entscheidend war und ist dabei stets eine Beziehung, die der Künstler zu den Orten seiner künstlerischen Investigation hergestellt hat, was von vornherein die Verwendung anonymer oder neutraler Räume ausschließt. Wenn Wagner also das Schlafzimmer seines Galeristen in der Galerie als Papierraum wiederauferstehen lässt, geht es in erster Linie nicht um eine kritische Durchleuchtung und Offenlegung der Strukturen des Kunstbetriebs, wie dies beispielsweise Michael Asher bereits seit den späten 6oer Jahren praktiziert hatte, sondern um den Versuch ein skulptural-installatives Display zu entwickeln, mit dem die Verbindungsmöglichkeiten zwischen der eigenen Lebensrealität und ihrer künstlerischen Transformierung ebenso (buchstäblich) greifbar werden, wie das Phantasmatische einer solchen Inszenierung.
Der weiße Papierkubus mit den schattenhaften Aufzeichnungen seines Inhalts, der von seiner ursprünglichen Stelle in den anonymisierenden, neutralisierenden Zusammenhang eines Ausstellungsraums verbracht wurde, beweist also einerseits durch seine Materialität und die indexalische Spur, welche die Gegenstände auf ihm hinterlassen haben, dass es ihn tatsächlich gibt. Andererseits wird schon in der papierenen Fragilität der Konstruktion und ihrer räumliche Isolierung die Schwierigkeit deutlich, diese Räume real zu lokalisieren. Verstärkt wird diese Tendenz zur Entkörperung, die der Szene nicht nur ungreifbar macht, sondern sie auch mit der Qualität eines verblassenden Erinnerungsbildes ausstattet, zudem durch den photografischen Prozess, dem diese Räume ihre stets mit dem Unsichtbaren verknüpfte Sichtbarkeit verdanken: In diesem Zusammmenhang ist vor allem daran zu erinnern, dass Fotografie im Sinne des weiter oben Ausgeführten eben nicht nur auf eine tatsächlich erfolgte photochemische Berührung mit dem realen Gegenstand hinweist, sondern damit immer auch auf das Vergangene dieser Berührung.
Der Wagnersche Lichtpaus-Prozess, der nicht mehr die Dinge selbst, sondern nur ihre Schatten zeigt, ist insofern also ein doppeltes Dokument des Vergangenen: Ein Palimpsest, das seine eigene Schattenhaftigkeit kommentiert. Radikalisiert wird dieser Zusammenhang von Präsenz und Entschwinden durch die Begehbarkeit der Wagnerschen Schattenräume. Indem der Betrachter sich physisch in den papierenen Ort begibt, wird er einerseits zum Bestandteil der Installation, das heißt ein Stück weit selbst der Logik des Entschwindens unterworfen, welche die Räume insgesamt kennzeichnet. Zudem hinterlässt er auf dem Papierboden Spuren seiner Anwesenheit, welche die gleiche Struktur wie die photochemischen Abdrücke aufweisen: Auch diese sind Zeichen einer körperlichen Anwesenheit, die, nachdem der Besucher die Ausstellung verlassen hat, nur noch als Erinnerung rekonstruiert werden kann.
Je häufiger und von je mehr Menschen diese Räume begangen werden, umso mehr spitzt sich notwendigerweise das Verhältnis zwischen Vergegenwärtigung und Verschwinden zu. Schlussendlich wird der Akt der Spurensuche, den der Betrachter in den Papierräumen betreibt, unter Umständen sogar zu einem Akt ungewollter Zerstörung: Jeder, der die Papier-Räume betritt, um ihnen so buchstäblich auf die Spur zu kommen, greift ihre Substanz an, indem er sie mit Füßen tritt. In einer paradoxen Volte führt der Versuch die schattenhafte Erinnerungen, die sich diesen Konstellationen eingeschrieben haben, zurückzuholen, sie gewissermaßen zu rematerialisieren, zu ihrer Auslöschung.
Wir betreten also durchaus schwankenden Grund, wenn wir uns in die Wagnersche Erinnerungs- und Gedächtniswelt hineingeben. Dies umso mehr, als der Künstler dem Akt des Erinnerns, wie dem Gedächtnis selbst keinerlei Objektivität zugesteht. Nicht mehr das Proustsche Modell, wonach die willentliche Erinnerung nur unwesentliche Bruchstücke zutage fördert, die Rekonstruktion des wahren Lebenszusammenhangs aber immerhin noch über die sich glückhaft einstellende „memoire involontaire“ möglich ist, leitet Wagners Investigationen. Erinnerung wird hier vielmehr als eine Tätigkeit begriffen, in der sich von vornherein Tatsächliches und Fiktives so vollständig miteinander mischen, dass eine saubere Unterscheidung zwischen Erfindung und Wirklichkeit nicht mehr möglich ist. Erinnern ist damit nicht nur der willentlichen Vergegenwärtigung teilweise entzogen, sondern wird grundsätzlich als kontingenter Prozess geschehen.
Ein Stück weit berührt sich diese Auffassung mit der Theorie des „kommunikativen Gedächtnisses“, wie sie von dem Essener Sozialpsychologen Harald Welzer beschrieben wird. Ausgehend von der Forschung über die kollektive Verdrängung des Nationalsozialismus, kommt Welzer zu dem Ergebnis, dass Erinnerung grundsätzlich weniger mit Vergangenheit, als mit Gegenwart zu tun hat, und jeweils so instrumentalisiert wird, wie sie gebraucht wird: „ Wir interpretieren die Vergangenheit um, errichten sie neu, je nachdem wofür wir in Erinnerungsgemeinschaften sozialen Rückhalt finden (…) Es ist uns relativ egal, ob etwas tatsächlich passiert ist. Hauptsache es verträgt sich mit unserer Gegenwart“ (1 )
Eben diese Verblendung aus Realität und Konstruktion bestimmt auch die Arbeiten Jörg Wagners für seine Ausstellung im Kunstverein Hannover. Dies gilt insbesondere für „Philipp Stauffen“. Auslöser für diese Arbeit ist eine Meldung in der Süddeutschen Zeitung über eine Person diesen Namens, die aufgrund eines Schlages auf den Hinterkopf ihr Gedächtnis verloren hatte. Aus dieser sparsamen Zeitungsnotiz entwickelt Jörg Wagner eine komplexe Geschichte, in der sich Spekulationen, Fakten und Assoziationen zu einer Möglichkeitsform verdichten, innerhalb derer Philipp Stauffen zu einem schillernden Alias zwischen einem verschwundenen französischen Pornodarsteller namens Georges Lecheit und dem deutschen König Philipp von Hohenstauffen mutiert. Vergegenwärtigt wird dieses Labyrinth aus Mutmaßungen, in dem jede Fährte sich am Ende selbst verdunkelt durch einen Text und einen etwa zwölf Quadratmeter großem Papierraum, der scheinbar das Zimmer dieser multiplen Persönlichkeit zeigt, und Schattenrisse eines Regals, eines Kühlschranks, eines Betts, eines Tischs und eines Waschbeckens aufweist.
Dominiert wird der Raum aber durch einen großen Vorhang, durch den man schwach und undeutlich die Umrisse eines anderen Raums gewahrt. Das lässt sich durchaus metaphorisch lesen: Der Vorhang in seiner strukturellen Ambivalenz aus Verhüllen und Enthüllen verweist hier auch darauf, dass Nichts an diesem Raum uns nähere Aufschlüsse über die mysteriöse Gestalt Philipp Stauffens gibt. Mit seiner sparsamen Möblierung erscheint dieser Schattenraum vielmehr geradezu als Muster eines austauschbaren, anonymen Orts, der die Identität seines Bewohners eher verschleiert und verhüllt, als kenntlich macht. Selbst die vielen kleinformatigen Fotos, die sich in mehreren Reihen übereinander an der Wand neben dem Vorhang befinden, verweigern jegliche spezifische Information, da sie durch die Lichtpaustechnik natürlich zu schwarzen, bedeutungsleeren Rechtecken geworden sind. In gewisser Weise folgen wir also in „Philipp Stauffen“ der Spur einer Geschichte, die sich gerade so weit konkretisiert, dass man ihr folgen möchte, nur um im gleichen Atemzug feststellen zu müssen, dass sie sich einem konkreten Zugriff entzieht, und sich schlussendlich vollständig in ihre opaken, selbstvergessenen Tiefen zurückzieht, um sich in ihrer schwarz-weißen Phantomhaftigkeit zu verschließen.
Auch „Doppler“ und „69“ sind von dieser fata-morgana-haften Atmosphäre geprägt. „69“ kombiniert George Millers epochales Road Movie Mad Max 2 (1981) mit einer Tonspur, auf der ein Mann davon erzählt wie er sich 1965 als einer der ersten deutschen Hippies – inspiriert durch Jack Kerouacs Kultbuch „On the Road „ – auf einen langen Trip über Afghanistan, Indien, Nepal und Malaysia bis nach Australien macht. Dort lebt er seitdem in einer selbstgegrabenen Felshöhle und tritt Anfang der 8oer Jahre als Statist in eben diesem Mad Max-Film auf. Für Jörg Wagner wird die so gezogene Verknüpfung zwischen dem Film und dem Abenteurer biografisch interessant, als er herausfindet, dass der deutsch-australische Höhlenbewohner sein entfernter Onkel Günther Wagner ist. Damit wird „69“ zu einer persönlich gefärbten „Recherche du Temps Perdu“ die den individuellen Trip des schwäbischen Aussteigers im muskulösen Genregestus des postkatastrophischen Road-Movies Mad Max spiegelt. Die ursprüngliche Projektionssituation des Films – ein eiförmiger – höhlenartiger Einpersonenkokon, wiederholt zum einen die auf Vereinzelung und Isolation gegründete Situation der beiden Filmhelden und schafft doch auch gleichzeitig den Raum, durch den der Betrachter zum Komplizen dieser männlich-mythischen Suche nach Freiheit und Abenteuer wird. In dieser platonischen Projektionshöhle mehr liegend als sitzend kann sich der Zuschauer in den Raum hinein träumen, der zwischen der individuellen Erzählung Günther Wagners und ihrer Verwandlung in den kollektiv anschreibbaren Mainstreammythos des Films entsteht. Und für Jörg Wagner ist die biografische Spur hin zu seinem Onkel der Ariadnefaden, der ihn aus dem Labyrinth einer in seinen Augen selbstvergessenen, beziehungslosen L´Art pour l ´Art herausleitet und ihm ein Mittel an die Hand gibt, mit dem sich persönliche Lebenswirklichkeit und Kunstpraxis produktiv verbinden lassen.
Genau um diesen prekären Punkt einer Verzahnung von Lebenswelt und ästhetischer Praxis, wenn man so will, sogar um eine Legitimierung der künstlerischen Arbeit durch ihren gelebten Hintergrund, die natürlich immer auch als Legitimierung des Lebens durch die Kunst gelesen werden kann, geht es „Doppler“. Wie nahezu alle Arbeiten Wagners argumentiert auch diese sowohl auf einer Bild- wie einer Textebene , die sich aufeinander beziehen, aber auch als jeweils eigenständige Elemente zu begreifen sind. „Doppler“ ist visuell eine ungemein suggestive wandfüllende, nahezu 18 mal 5 Meter große Lichtpausarbeit, die den schwarzweißen Schattenriss einer faltenwerfenden Papierfläche zeigt. Akustisch besteht die Arbeit aus einem 2ominütigen Interviewzusammenschnitt, in dem der Erzähler „Carl“ über seine Erinnerungen aus dem Jahre 1988 berichtet. Darin geht es um die damals angesagteste Droge Doppler ebenso wie um Kiffen, Saufen und Motorradfahren und die WG-Erfahrungen, die er zusammen mit Jörg Wagner und einigen anderen Jungs zu dieser Zeit im Stuttgarter Raum machte.Vor allem aber ist der Text eine Reflexion über den Zusammenhang von Kreativität und alltäglicher Lebenspraxis, der sich in einer „als Höhepunkt des Jahres“ von Carl aufgeführten Performance als glückhafte Koinzedenz von „mal was anderes machen“ und Kunst realisiert.
In der Engführung von Bild und Text erscheint die wandfüllende Papierarbeit zum einen als leere Projektionsfläche, die durch den Text erst in-formiert wird, zum anderen als Metapher für die signifikante Mischung aus Abwesenheit und Präsenz, die nicht nur diese Installation beherrscht. In diesem Sinne wird die faltenwerfende Papierfläche zu einem Vorhang, der sich nie öffnen wird, und in seiner eingefrorenen, nur potenziell bewegten Plastizität alles was hinter ihm liegt als eine Zone kennzeichnet, über die sich nur mutmaßen lässt: So wie über die Geschichten Carls, die ebenso wie die des australischen Onkels oder Philipp Stauffens wahr oder erfunden sein mögen. Entscheidend ist in diesen Konstallationen, wie in der gesamten künstlerischen Arbeit Jörg Wagners insoweit nie das Tatsächliche, sondern das Mögliche, das für den Betrachter zu einem Prozess wird, in dessen Verlauf er lernen kann, dass die Realität nur als Konstruktion interessant ist.
(1) Im Gedächtniswohnzimmer: Harald Welzer im Gespräch mit Elisabeth von Thadden, in: DIE ZEIT Literatur, Sonderbeilage Nr. 14, März 2004, S.45.
Eva Schmidt über die Arbeit „69“
Der Film 69 verwendet die Bilder eines Filmes von MadMax mit Mel Gibson und eine von Jörg Wagner realisierte, darübergelegte Tonspur. Visuelle und akustische Informationen sind sich einander fremd. Während der Film für die Dauer von anderthalb Stunden abläuft, erzählt jemand seine eigene Geschichte: Günther, Opalsucher und Maler, berichtet von seinen aufregenden Reisen. Als einer der ersten deutschen Hippies trampt er 1965 los, mit Kerouacs Buch On the Road in der Tasche, um mit verschiedenen Verkehrsmitteln über den Mittleren Osten, Afghanistan, Pakistan, Indien, Nepal, Ceylon, Indonesien, Malaysia nach Australien zu gelangen. Seit 1969 lebt er in Coober Pedy, genau in der Mitte des australischen Kontinents. Anfang der achziger Jahre wird hier eine Folge von MadMax gedreht und Günther übernimmt die Rolle als Statist. Dieser Genrefilm auf der Bühne einer postkatastrophischen Wüstenlandschaft mit seinen schnellen Kamerafahrten und Filmschnitten, mit seinen stereotypischen Figuren und erzählformen wird collagiert mit der persönlichen Erzählung von einer individuellen Suche nach Abenteuer, Freiheit und Glück. Das Mythologische wird auf beiden Seiten vermittelt. Aber mehr als das, was beiden gemeinsam ist, fällt die Divergenz auf: Das unterschiedliche Tempo von Film und persönlicher Erzählung, die perfekten und doch floskelartigen, dramaturgischen Spannungsbögen auf der einen Seite und die stockende, in der Erinnerung suchende Erzählung mit schwäbischem Akzent auf der anderen Seite. Ton und Bild führen ein Eigenleben. Sie gleichermaßen wahrzunehmen fällt schwer. Zwischen beiden öffnet sich eine Kluft, in der die selbstreflexive Wahrnehmung des Zuschauers ihren Platz findet.
Jörg Wagner besuchte 1998 Günther in Australien. Ihn interessierte vor allem, mehr über dessen „dugout“ zu erfahren. Günther hatte sich in den Felsen eine Höhle gegraben, genau in der Größe, die er zum Leben benötigt. Wagner baute zu der Zeit eine Reihe von skulpturalen Papierräumen. Mit Hilfe der alten Blaupausentechnik hatte er an deren Innenwänden die Schatten von verschiedenem Mobiliar fixiert. Mit diesem Prinzip bildete er auch 1998 die Höhle von Günther ab. Die Skulptur spricht schemenhaft von Arbeits-, Wohn- und Schlafzimmer des Opalschürfers in der australischen Wüste.
Auf diesen früheren Arbeiten aufbauend, gehört zum Film über Günthers Leben, gespiegelt im stereotypischen Genrefilm, eine entsprechende Projektionssituation: 69 wird in einem höhlenartigen Ambiente vorgeführt. Die Assoziation mit der platonischen Höhle als Urszene des Kinos liegt dabei nahe. Das von Jörg Wagner gebaute Ein-Personen-Kino verdoppelt noch einmal die sich im Leben des Günther widerspiegelnde Dialektik zwischen grenzenloser Freiheit und individueller Isolation. Jörg Wagner ist 1967 geboren und lebt in Köln. Er beteiligte sich 2000 an der Ausstellung „Weltwärts“ im Kunstmuseum Bonn und 2001 an 1000eventi in Mailand.
Eva Schmidt in „Ohne Zögern/Without Hesitation“- Die Sammlung Olbricht Teil2 Catalogue Published byNeues Museum Weserburg und Gesellschaft für aktuelle Kunst, Bremen 2001 Page 232
Philipp Wittmann / Johannes Stahl über die Arbeit „Jugendzimmer“
Jörg Wagner „Sie haben mich eingeladen, zu Ihnen über ‚Frauen und Dichtung‘ zu sprechen, und werden sich fragen, was das mit dem Thema zu tun hat, das ich behandeln werde – einen Raum für sich selbst? […] Alles was ich sagen kann, ist ein scheinbar vernachlässigenswerter Gesichtspunkt – eine Frau muß über […] einen Raum für sich selbst verfügen, um zur Dichterin zu werden. Ein Schloß vor der Tür bedeutet die Macht, eigene Gedanken zu entwickeln.“
Ein Künstler, so könnte man die Gedanken Virginia Woolfs übertragen, muß über einen eigenen Raum verfügen, um zum Künstler zu werden. JörgWagner legt mit der Arbeit „Jugendzimmer“ die Vermutung nahe, daß er in seiner Jugend einen Raum für sich selbst hatte, in dem er die Tür hinter sich verschließen konnte, um eigene Gedanken zu entwickeln. Glaubt man dem Soziologen Ulrich Beck, dann war dieses Zimmer möglicherweise prägend für die künstlerische Veranlagung Jörg Wagners. Denn „im Ringen um den ‚eigenenRaum‘ […] geht es um die Errichtung und Sicherung eines inneren Raumes – als Voraussetzung des eigenen Lebens.“ Jörg Wagner gehört zu jener Generation, die von der Wohnraum-Revolution profitierte, die in den fünfziger Jahren ansetzte und bis heute jedem Bundesbürger im Durchschnitt eine Wohnfläche von über 30 m2 bescherte. Betritt man seine frei in den Raum gehängte Papierinstallation „Jugendzimmer“, fällt die spärliche Ausstattung auf: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, eine Kommode. Eine Tür samt Schloß fehlt, Wände, Decke und Boden sind aus Papier, das kaum mehr als eine Installation übersteht. Es ist reiß- und schmutzempfindlich, licht- und geräuschdurchlässig und erfüllt damit weder das Klischee der Entwicklungspsychologen und Soziologen vom geschlossenen Refugium, noch die Anforderungen, die in unseren Breiten an die eigenen vier Wände gestellt werden. Diese scheinen hier einer Membran zu gleichen, die zwischen Innen undAußen vermittelt. Mit den Arbeitsgängen des Abformens und Errichtens bewegt sich Jörg Wagner an der Schnittstelle zwischen Architektur und Bildhauerei. Die Schattenbilder der Lichtpause befördern in ihrer zwischen Schwarz und Blau changierenden Farbigkeit einen malerischen Aspekt. Aufgrund seiner formalen Mittel und des aus kunsthistorischen, soziologischen und biographischen Bezügen markiert Jörg Wagners „Jugendzimmer“ eine wichtige Position in einer immer aktuellen Debatte. Die Assoziation des auf- und abschlagbaren Zeltes nomadischer Kulturen drängt sich auf. Zugleich führt das Papier und dessen Luizidität die Gedanken zur japanischen Kultur, in der Papier ein wichtiger Kulturträger ist. So gesehen überrascht es nicht, daß der Künstler im Sommer 1998 drei Monate in Japan verbrachte. Ein erstes Ergebnis dieses Arbeitsaufenthaltes war die Nachbildung einer japanischen Hotelkapsel in den Maßen von 1x1x2m, wie sie einmaligen Übernachtungsgästen angeboten wird. Mit seinen bisherigen Räumen steht Jörg Wagner in einer ganzenReihe von Künstlern, die sich mit dem Thema Wohnen oder BeHausung beschäftigen. Zu Dan Graham etwa führt die Verbindungvon minimalistischer Form und gesellschaftlich relevanter Thematik: Wagners Räume sind einfache, begehbare Kuben, die u.a. auf dieReflexion des Betrachters über sein Verhältnis zu den anderen Anwesenden, von Innen und Außen oder von Privatheit undÖffentlichkeit zielen. Mit Rachel Whiteread verbindet ihn hingegen der Aspekt der Negativabformung, sowohl der Wände als auch der Möbel. Der Entstehungsprozeß der einzelnen Räume besteht aus mehreren Schritten. Mit seinem Rohstoff, beschichtetem Papier, legt er ein zuvor ausgeräumtes Zimmer aus. Danach wird das Mobiliar an seinen ursprünglichen Platz zurückgestellt. In weiteren Arbeitsschritten werden die beschichteten Papierbahnen belichtet und abgenommen. Die Stellen, an denen bei der Belichtung das Mobiliar stand, werden entwickelt und die Schattenrisse der Möbel werden sichtbar. Am Ausstellungsort selbst montiert er die Papierbahnen dann zum kompletten Zimmer. Ähnlich knapp wie seine großen Papierinstallationen kommt seine kleinformatige unbetitelte Filzstiftzeichnung in der Artothek im Bonner Kunstverein aus: lakonisch in geraden, sicheren Strichen istein Haus festgehalten. Mit starker Perspektive, klein in die Mitte der Papierfläche gebracht, reflektiert die Zeichnung ebenso wie die Installationen die Umstände der Wahrnehmung von Räumen.
Tilmann Rammstedt über die Arbeit „Philip Staufen“
Ab jetzt
Ich kenne Philip Staufen nicht. Leider bin ich mir da ganz sicher. Leider kann man da nichts machen. Ich schaue auf das Foto in der Zeitung, das Foto, das wieder erkannt werden soll, das Foto, bei dem man rufen soll: Mein Gott, ist das nicht Philip, das Foto, von dem man hofft, dass es sich so bald wie möglich überflüssig macht, doch ich kann nichts wieder erkennen, ich kann nichts rufen, weil ich Philip nicht kenne, weil ich ihn noch nie gesehen habe, und ich, so leid es mir tut, nicht der bin, durch den das Foto überflüssig wird. Philip und ich haben nicht gemeinsam im Sandkasten gespielt und uns dann Jahre später nicht zufällig auf der Straße getroffen und ein paar holpernde Sätze voller Pausen gewechselt. Philip und ich sind nicht gemeinsam in den Urlaub gefahren, Campen zum Beispiel, nach Schweden zum Beispiel, um uns dort wegen irgend etwas, sagen wir einer ausgelaufenen Flasche Apfelsaft, zu streiten und fast die ganze Rückfahrt über zu schweigen. Philip und ich hatten nicht den gleichen Heimweg, keine gemeinsame Buslinie, keinen Hausarzt, bei dem wir zeitgleich mit Windpocken im Wartezimmer saßen, während unsere Mütter sich wissend anlächelten. Philip und ich haben nicht im gleichen Sommer als Gärtner gearbeitet und sind nicht hinterher noch manchmal was trinken gegangen. Philip war nicht der Austauschschüler, der sich überschwänglich verabschiedete, obwohl wir kein Wort miteinander gewechselt hatten, er war nicht der kurzzeitige Liebhaber der kleinen Schwester, den ich am Morgen verschämt ins Bad huschen sah, er war keiner der insgesamt vierundzwanzig Bewerber für das freigewordene Zimmer, er bediente in keinem Café, fragte mich nie nach dem Weg oder Feuer, wurde nie von mir nach Weg oder Feuer befragt, er saß mir nie im Zug gegenüber, wir hatten nie einen Fahrradunfall, nie eine dritte Begegnung am gleichen Tag, bei der man sich auf einmal grüßt. Philip und ich haben nie Pläne geschmiedet, uns nie etwas versprochen, uns nie endlich mal die Wahrheit gesagt, ich habe nichts auf Philips Gipsbein geschrieben und er nichts auf mein Federmäppchen, nie haben Philip und ich uns versichert, in irgendwen beim besten Willen nicht verliebt zu sein, nie wusste Philip, dass ich später noch mal anrufen würde, nie hatte ich etwas erlebt, um es hinterher Philip erzählen zu können, und nie haben wir uns bei Dritten über den anderen beklagt.
Philip und ich haben uns nie gegenseitig die Personalausweise aus der Hand gerissen, um sich über das Foto des andern lustig zu machen. Es gibt keine betrunkenen Schnappschüsse von uns, wir stehen nirgendwo vor dem Louvre, nicht auf der Karlsbrücke, vor keinem walisischem Ortsschild. Nichts war so, und weil nichts so war, weil ich Philip nicht kenne, weil ich mir da leider sicher bin, kann ich Philips Foto in der Zeitung nicht mit Philip vergleichen, ich kann nicht sagen: Kürzer sah besser aus, ich kann nicht sagen: Den Pulli hat er also immer noch, und auch nicht: Bisschen zugelegt hat er ja. Ich kann nur vor dem Foto sitzen und nichts wieder erkennen und nichts vergleichen, denn auf dem Foto sind ja Philips Haare immer gleich lang, und er trägt immer den gleichen Pulli und sein Gewicht ändert sich nicht, auch nicht, wenn ich sehr lange hinschaue, bis zu zwei Stunden, auch nicht, wenn ich zwischendurch kurz wegsehe, auch nicht am nächsten Morgen, nicht am übernächsten und auch nicht an dem danach. Daran ändert sich nichts, wenn ich es ausschneide, wenn ich es in mein Portemonnaie stecke und in den Mittagspausen, im Bus, beim Warten betrachte, wenn es mir ab und zu aus dem Portemonnaie fällt, beim Geld suchen zum Beispiel, wenn mich Menschen fragen, wer denn das sei, mein bester Freund vielleicht, oder mein Bruder, und ich sage: Ja, mein bester Freund. Ja, mein Bruder, und die Menschen sagen: Der sieht aber nett aus, und: Das sieht man, ihr habt das gleiche Kinn, und ich antworte: Der ist auch wirklich nett, und: Ja, das ist das Kinn meines Großvaters mütterlicherseits. Und mit den Monaten ist das Foto dann ganz verknickt und eingerissen und vielleicht schon ein bisschen verblasst, vielleicht auch so verknickt und verblasst, dass weiße Linien über Philips Gesicht laufen und man Philip mit der Zeit gar nicht mehr erkennen kann.
Dann würde ich mich endlich an Philip erinnern, dann würde ich endlich sagen können: Das war Philip auf dem Foto, und wenn es dann noch einmal heraus fällt, und Menschen mich fragen, was das für ein verknickter Zettel sei, dann sage ich: Das ist ein Foto von Philip, wir haben uns leider aus den Augen verloren. Und die Menschen nicken und sagen, ja, man verliert sich aus den Augen, und dass sie das kennen, und man sich einfach mal wieder melden müsste.
Ich muss mich wieder bei Philip melden, weil er sich doch nicht bei mir melden kann, ich muss ihn suchen gehen, weil er mich doch nicht suchen kann, ich muss ihm alles zeigen, weil er doch nichts mehr weiß. Ich muss mich vorbereiten. Ich muss ihm zum Beispiel zeigen, was ein Kühlschrank ist. Ich muss herausfinden, wie ein Kühlschrank funktioniert, damit ich ihm das genau erklären kann, und ich muss ihm zum Beispiel zeigen, was Wolken sind, und ich muss das mit dem Verdunsten noch einmal nachlesen, damit ich es ihm auch ja richtig erkläre, ein Lexikon muss gekauft werden, auf Dokumentationen muss geachtet werden, es müssen Fachleute befragt werden. Und ich muss mir schnell einen Hund kaufen, um ihm Hunde erklären zu können, das kann man ja nur aus eigener Erfahrung, da hilft kein Lexikon, und ich muss zum Friseur, um ihm erklären zu können, wie es sich anfühlt, wenn man sich die Haare ganz kurz geschnitten hat und erschreckt in den Spiegel sieht, wenn der Friseur sagt: Sieht doch gut aus, wenn er sagt: Ist vielleicht nur noch etwas ungewohnt. Ich muss mich heftig verlieben, und ich muss mir ein Bein brechen, und ich muss meine Mutter fragen, wie Königsberger Klopse gehen. Ich muss dringend noch einmal Seestern essen, weil ich mir auch da nicht mehr sicher bin, und ich muss auf ein Schiff, ich muss die Knoten lernen, ich muss eine Seekrankheit überwinden. Ich muss mit dem Rauchen anfangen und es mir wieder abgewöhnen, um sagen zu können, dass die ersten Tage die schlimmsten seien. Ich muss einen Boxkampf verlieren. Ich muss einen Tanz lernen. Ich muss auf einen Berg steigen. Ich brauche Kontaktlinsen und eine Marienerscheinung. Ich muss Folgen Sie diesem Wagen sagen und Keine Sorge, ich hole dich hier raus, und dann muss ich tatsächlich jemandem folgen und jemanden irgendwo herausholen, das gehört alles zur Vorbereitung. Schau, Philip, so funktioniert der Aktienmarkt. Schau, Philip, das ist ein Melophon. Schau, Philip, das ist mein Jüngster. Ich muss sehr viel herausfinden, und ich darf nichts vergessen, denn das Vergessen muss ich Philip nicht zeigen, da macht ihm keiner was vor. Und wenn ich mit dem Herausfinden fertig bin, dann gehe ich Philip suchen, das wird hoffentlich nicht schwer sein, und dann finde ich ihn und sage: Schau, Philip, das ist ein Kühlschrank, und Philip sagt, dass er das wisse, weil er es, während ich mit Herausfinden beschäftigt war, längst selbst herausgefunden hat, und ich sage: Schau, Philip, das ist ein Labrador, und er sagt, dass er auch das wisse, und ich sage: Schau, Philip, so gehen Königsberger Klopse, und Philip sagt: Ach so.
Und dann werden wir die Königsberger Klopse essen, und Philip wird anfangs etwas nervös sein, das macht nichts, das bin ich auch, und nach einer Zeit wird er vorsichtig fragen, ob wir uns denn kennen würden, und ich werde ihn überrascht ansehen und sagen: Weißt du denn nicht mehr, wie wir damals nicht im Sandkasten spielten? Weißt du denn nicht mehr, als wir nicht in Schweden waren? Weißt du denn nicht mehr meine fehlende Unterschrift auf deinem Gipsbein, weißt du denn nicht mehr der leere Platz gegenüber im Wartezimmer des Hausarztes? Das war ich.
Und ich werde ihm zum Beweis Fotos zeigen, auf denen er nicht ist – Weißt du denn nicht mehr, Philip, wie du da nicht dabei warst? – und alte Adressbücher, in denen sein Name nicht auftaucht – Weißt du denn nicht mehr, wie wir uns nicht geschrieben haben? – und ich werde ihm die Refrains der Lieder vorsingen, die wir nicht miteinander gehört haben, und die Titel der Bücher aufzählen, die er mir nicht geliehen hat – Die musste ich mir alle selber kaufen, Philip! – und ich werde auf meinen Schneidezahn zeigen und sagen: Siehst du nicht, dass er ganz ist? Weißt du nicht mehr, wie du ihn mir damals nicht aus Versehen mit dem Tennisschläger abgebrochen hast? Und ich werde ihn ungläubig anschauen, das könne er doch nicht alles vergessen haben, und er wird an seinem Getränk nippen oder sich mit der Servierte über den Mund fahren und dann sagen, leise sagen wahrscheinlich: Doch, all das wisse er noch. Er erinnere sich genau an alles, das nicht war; er wisse noch alles, das fehlt. Er wird sagen: Ich erinnere mich so gut, als ob all das gestern nicht gewesen wäre.
Und ich werde lachen und sagen: Siehst du, Philip, du weißt es noch, du weißt das noch alles. Und Philip wird, etwas schüchtern, fragen, ob er sich recht erinnere, dass wir nicht zusammen in einer sehr schlechten Band gespielt hätten, er nicht an der Gitarre und ich nicht am Bass, und ich werde rufen: Stimmt, die schlechte Band, in der wir nicht spielten, wie hieß sie noch gleich? Und wir werden versuchen auf den Namen zu kommen, und wir werden ihn nicht finden, und wir werden viele solcher Erinnerungen austauschen und mit der Zeit etwas wehmütig werden, und dann, wenn es draußen schon längst wieder dämmert, wenn wir uns verabschieden, werde ich sagen: Ab jetzt dürfen wir uns nicht aus den Augen verlieren, und Philip wird sagen: Nein, ab jetzt nicht mehr.